Categorie: Heimat

00. Germany

Ein Bauernhof aus der Bodenreform

"Aufstehen, Alina, wir wollen heute zu Oma und Opa fahren. Sie schlachten, da brauchen sie jemanden zum Helfen."
Alina drehte sich noch einmal auf die andere Seite und nahm ihren gelben Teddy in den Arm.
Die Tür zu ihrem Zimmer war angelehnt. Aus dem Bad drang Musik, und Marie summte leise in der Küche.
"Komm, Alina, es ist schon spät."
Marie zog die Gardinen auf und stellte ein Tablett mit einer Tasse Malzkaffee und einer Wurststulle auf den Tisch
vor Alinas Bett.
"Mach schnell, Papi holt schon das Auto aus der Garage. Er muss gleich hier sein!"
Alina rekelte sich, dann aß sie ihr Frühstück im Bett, ging kurz ins Bad und zog ihre Shorts und ein Nicky an.
"Schließ die Tür ab und bring noch den roten Beutel mit", rief Marie, die schon die Treppe hinunter gelaufen war.
Sie wollte gern pünktlich bei ihren Eltern sein.

Alinas Großeltern wohnten 25 km weg, und so gab es eine Fahrt über Landstraßen, vorbei an Wiesen und Feldern.
Alina stieg ins Auto und saß wie immer hinten.
Sie schaute aus dem Fenster.
"Was wächst auf dem Feld auf der linken Seite?" fragte Willi und blickte in den Rückspiegel, um Alinas Gesicht sehen zu können.
"Ist das Kohl?"
"Nein, das sind Rüben! Und was ist rechts?"
Wahrscheinlich wieder so ein Korn, das ich nicht kenne, dachte Alina und sagte:
"Vielleicht Roggen?"
"Mädchen, Mädchen, sag bloß keinem, dass du die Tochter eines Landwirts bist! Das ist Gerste, das sieht man doch!"
"Warum? Woran sehe ich das?"
"Gerste ist das Einfachste. Du siehst doch die langen Grannen. Beim Weizen gibt es fast gar keine, und beim Roggen sind sie
nicht so lang. Aber Gerste ist doch ganz einfach - dieses riesige Grannenmeer!"
Jetzt kam es Alina auch wieder logisch vor.

Bis zum nächsten Mal, dachte sie, da habe ich es bestimmt wieder vergessen. Wie der Papi sich das nur merken konnte?
Sie hatte im Wohnzimmer auch schon einige Bücher gesehen - alle über Gräser und Pflanzen und Felder.
"Die sind aus meiner Fachschulzeit", hatte Papi damals gesagt und ihr einige Pflanzen und ihre Besonderheiten erklärt.
Bei Fahrten im Auto wusste Alina schon, dass sie nach den Feldern gefragt werden würde und versuchte,
es sich genau einzuprägen - aber sie war 8 Jahre alt, da war beim nächsten Mal bestimmt wieder eine Sorte dabei,
die sie nicht kannte.

Für dieses Mal war es vorbei.
Hinter diesem Dorf gab es kaum Felder, dafür viel Wald, und jetzt waren sie gleich im nächsten Dorf.
Am Ortsausgang lag die Stärkefabrik mit einem kleinen Bahnhof. Von dort waren es nur noch 3 km bis nach ….
Die Straße bestand aus Kopfsteinpflaster und wölbte sich in der Mitte. Es stuckerte sehr, und Willi musste ganz langsam
fahren. Oft schien hier sowieso keiner lang zu kommen, denn zwischen den Steinen wuchs Gras.
"Hast du so was schon mal gesehen, Alina, mitten auf der Straße wächst Gras", sagte Willi und lachte.
"Pass auf, Willi, gleich kommt die große Kurve", sagte Marie, die immer ein bisschen ängstlich war beim Autofahren,
" man weiß ja nie, was von vorne kommt."
"Du weißt doch, dass ich vorsichtig fahre!"
"Ja, aber man muss auch immer mit der Dummheit der anderen rechnen!"
"Papi, guck mal, da sind Kühe! Können die auch auf die Straße kommen?"
"Nein, siehst du den Zaun hinter der Straße? Damit ist die Koppel begrenzt. Er enthält Strom, und wenn ein Tier dadurch will,
erhält es einen Schlag."
Jetzt waren sie am Ortseingang.
Gleich nach den ersten Häusern bogen sie ab. Das Kopfsteinpflaster hatte aufgehört, und sie folgten einem Sandweg
vorbei am Dorfteich bis hin zu einem großen Bauernhof.

Alfred Berger stand am Zaun und öffnete das große Tor.
Willi fuhr auf den Hof und ließ das Auto in der Einfahrt stehen.
"Guten Morgen, Vater", sagte Marie, "wie ist es gelaufen? Kommen wir zu spät?"
"Nein nein", sagte Alfred, "Mutter ist in der Küche und macht gerade für alle Kaffee.
Danach können wir mit dem Einpökeln beginnen. Es war ein ziemlich großes Schwein. Wir werden noch eine Weile zu tun haben!"
Alina saß immer noch im Auto und blickte ängstlich um sich. Sie wusste, gleich würden Hasso und Waldo - ein großer schwarzer
und ein weißer Hofhund - angelaufen kommen, und sie hatte große Angst vor ihnen.
"Alina, nun komm endlich raus, Oma hat für dich ein Zuckerei gemacht!" hörte sie ihre Mutter aus der Küche rufen.
Vorsichtig setzte Alina einen Fuß aus dem Auto, blickte um sich und rannte dann wie der Blitz über den Hof und hinein in die Küche.
"Was hast du denn, mein Kind?" fragte Martha Berger.
"Du weißt doch, Oma, dass ich solche Angst vor den Hunden habe!"
"Ach wo, die sind doch gar nicht hier. Die sind mit Onkel Guntram und Onkel Gustav auf dem Feld. Du kannst heute Mittag
mit Opa mitfahren und ihnen das Mittagbrot bringen."
Alina war beruhigt und nahm ihr Zuckerei - ein frisches, rohes (!) tiefgelbes Eigelb vermischt mit etwas Zucker.
"Iss, mein Kind, das weckt die Lebensgeister", sagte Martha und schnitt Alina noch eine Scheibe von einem riesigen Brot ab.
"Du kannst nachher ein bisschen im Garten spielen, während wir hier alles fertig machen", sagte Martha,
"ganz hinten am rechten Zaun sind noch ein paar Johannisbeeren, wenn du naschen möchtest."

Alina nahm ihre Stulle und ging langsam in den Hof. Wenn Hasso und Waldo nicht da waren, konnte sie ja auf Entdeckung
gehen.
Das machte dort richtig Spaß, denn es war ein sehr großes Anwesen:
Alina wusste, von der Küche aus kam man direkt in den Hof. Auf der rechten Seite waren der große Gartenzaun und die
Toreinfahrt, und auf der linken Seite ging es in den Hühnerhof, wo auch das kleine Häuschen stand mit dem Herz
in der Tür.
Direkt daneben war eine große alte Scheune, die zwei große tiefe Keller enthielt und einen fast durchgehenden Heuboden.
Neben der Scheune befand sich ein nach vorne offener aber überdachter Schuppen, wo allerlei Geräte für die Feldarbeit standen,
so auch Pflüge und ein großer Wagen mit vier Rädern, vor den man Pferde spannen konnte.
Alina kletterte ein bisschen auf den Geräten herum und ging dann hinter den Schuppen weiter in den großen Garten.
Dieser Garten war in verschiedene Bereiche unterteilt - ein Teil mit Obstbäumen und viel Rasen, auf dem auch die Enten,
Gänse und Hühner herum liefen, dann ein Teil mit Johannisbeersträuchern, wobei die Beeren, so wusste Alina,
von ihrem Opa zusammen mit den Kirschen zu Wein verarbeitet wurden.

Dann kamen verschiedene kleine Gärten mit Blumen, die wahrscheinlich ihre Oma angelegt hatte, dann ein riesiger
Gemüsegarten, vor allem mit Spargel und auch vielen Erdbeeren - und was dann noch übrig blieb, war immer noch
ein großes Stück Garten, bewachsen mit Gras und Blumen, in deren Mitte eine riesige alte Blutbuche stand.
Dieser Teil des Gartens wirkte immer noch wie ein großer angelegter Park, was er früher auch mal gewesen war.

Er war Teil eines großen Gutes, und das Haus, das Alfred Berger - nun - mit seiner Familie bewohnte,
war das Haus des früheren Gutsverwalters.

Nach der Bodenreform 1945 – bei der das Land „der früheren Großgrundbesitzer durch den Staat an die Bauern
zur Bewirtschaftung verteilt“ wurde – so die „offizielle“ Version, welche an den DDR-Schulen vermittelt wurde - hatte der Bauer
Alfred Berger mit seiner Familie das Anwesen mit dem Haus sowie ein paar Morgen Land zur Bewirtschaftung erhalten.
Seitdem hatten sie hart gearbeitet und sich ein Zuhause geschaffen. Sie waren nun selbst als „Gutsverwalter“ tätig,
hatten Ackerflächen zu bestellen und Vieh zu versorgen.
Es gab kein freies Wochenende und keinen Urlaub - und auch Willi als Schwiegersohn musste oft genug mit anpacken.

Alina hatte sich unter die große Buche gelegt und war eingeschlafen.
Als sie erwachte, summte es um sie herum, und es war fast Mittag.
Sie ging auf die andere Seite des Gartens und naschte ein paar Johannisbeeren.

Im Hühnerhof standen einige Holzkäfige mit Kaninchen. Alina rupfte ein paar Blätter vom Baum und fütterte sie und versuchte,
ihre langen Ohren zu streicheln.

Ach, so ein Bauernhof war schon toll!

Plötzlich verspürte sie ein Verlangen, sich auf dem Boden zu verstecken.
Der Boden hatte sie schon immer fasziniert. Leise schlich sie sich durch den Stall und den langen Gang bis hin zur Bodentreppe.
Oben knarrte es entsetzlich. Alina ging ganz vorsichtig. Sie wusste auch, dass manche Dielen locker waren oder man an
manchen Stellen durchfallen konnte und zwar hinunter in den Stall. Im hinteren Teil des Bodens konnte man jedoch beruhigt
gehen und sich alles ansehen.
Heute riecht es hier so merkwürdig, dachte Alina, und da sah sie auch schon die langen Reihen voller Würste, die für die
Räucherkammer bestimmt waren.
"Alina, wo bist du? Wir suchen dich überall! Komm, wir wollen Mittag essen!" hörte sie unten im Hof ihre Oma rufen.
"Ich komme, ich komme schon!" Alina versuchte, unbemerkt vom Boden auf den Hof zu gelangen, aber Martha stand unten
an der Treppe und nahm gerade die frisch gelegten Hühnereier aus den Nestern, die sich direkt dahinter in einem
kleinen Verschlag befanden.
"Alina, warst du schon wieder auf dem Boden? Du weißt doch, dass du nicht allein dort oben sein sollst! Du fällst noch runter!
Wenn Opa das wieder erfährt, ist er böse auf dir!"
"Ja, ich weiß, Oma. Aber sag, heißt es nicht "böse auf dich?"
"Das kann sein, Alina, du weißt doch, Oma hatte keine deutsche Schule, nur eine polnische."
"Ja??? Warum?"
"Das war im Krieg, nach dem 1. Krieg. Alles war zerstört, und später wurde unser Gebiet polnisch.“
"Dann sprichst du auch heute noch polnisch?“
"Ja, mein Kind, die Zeit vergesse ich nicht!“
Martha hielt einen Moment inne, nahm dann den Korb mit den Eiern und ging durch den Stall in die Küche.
"Komm, Alina, die anderen warten schon!“

Nach dem Essen spannte Alfred das Pferd vor den Wagen und setzte sich auf den Kutschbock."
Alina, kommst du mit auf `s Feld?"
"Ja, Opa, ich komme."
Alina nahm den Korb mit den Butterbroten und Thermosflaschen und setzte sich zum Opa.
"Hüh, hüh, los Pferdchen, lauf!" rief Alina, und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.
Es war nicht weit, nur ein kleiner Weg am Hof vorbei, ein kleines Stück Landstraße, und schon waren sie da.
Es war immer noch sehr warm. Guntram und Gustav Berger saßen im Schatten einer kleinen Baumgruppe am Rande
des Feldes.
"Hallo Vater, noch 1 bis 2 Stunden, dann haben wir es geschafft. Haben gerade eine kleine Pause gemacht.
Habt ihr was zum Essen dabei?"
Guntram Berger war ein großer, kräftiger, dunkelhaariger Mann. Sein Bruder Gustav war war etwas kleiner,
aber nicht weniger kräftig.
Meine Jungs schaffen was weg, dachte Alfred stolz und reichte ihnen den Korb.
"Na, da ist ja unsere Verstärkung!"
Gustav lachte und hob Alina vom Wagen, die sofort ängstlich nach den Hunden Ausschau hielt.
"Schau dich bisschen um, du kleines Stadtkind, und heute Abend zeig ich dir die Tiere!“
Alina nahm den leeren Korb und ging den Feldrain entlang.
Ich suche bisschen was Frisches für die Muckies, dachte sie, das mögen sie so gern, und sie sammelte Löwenzahn
und Kleeblätter, während ihr Opa mit seinen Söhnen über` s Getreide und die Ernte sprach, wovon sie ja doch
nichts verstand.

Am Abend ging Alina in den Stall und sah beim Melken zu. Martha und Marie wechselten sich ab, und als sie fertig waren,
kam Martha mit einem großen Eimer voller Milch zu Alina, nahm eine Schöpfkelle und sagte:
"Hier, mein Kind, trink, was Besseres gibt es nicht! Die Milch ist noch ganz warm!"
Alina schüttelte den Kopf. Frische, euterwarme Milch, womöglich noch mit Pelle!
Schon bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um, und auch die Erinnerung an die Milchsuppe mit Mehlklunkern
war wieder da!
"Lass sie, Mutter", sagte Marie, "sie hat doch noch nie Milch getrunken. Sie ist mir ja sogar an der Brust eingeschlafen!“
"Die Jugend weiß nicht mehr, was Hunger ist! " sagte Alfred, "als ich damals in Russland in Gefangenschaft war, gab es nichts,
aber auch gar nichts!"
"Reg dich nicht auf, Vater", sagte Willi beruhigend, "sie meint es nicht böse. Die heutige Generation weiß es nicht besser."
"Ist das nicht schlimm!" sagte Alfred, "wir hätten uns über jeden Schluck Milch gefreut!
Aber es gab nur Hunger und Kälte - und es ist sehr kalt in Russland, das könnt ihr mir glauben!"
Alina tat es leid, dass sich nun alle so aufregten und versuchte, auf ein anderes Thema zu wechseln.
"Haben die Schweine schon was zu essen bekommen? Und auch das Pferd? Haben die Kühe auch Namen?"
Willi zeigte ihr den großen Dämpfer im Vorraum, in dem man das Futter für die Schweine wie z.B. Kartoffeln zubereitete.
Anschließend nahm er einen kleinen Korb mit Hafer und stellte ihn dem Pferd hin.
"Beim Pferdefüttern ist es ganz wichtig, dass du den Kumm nicht zu voll machst, dann frisst es nicht. Gib ihm nur wenig,
damit es Hunger hat!"

Am frühen Abend saßen dann alle in der großen Küche und aßen vom Geschlachteten.
Alina mochte besonders die selbstgemachte Leberwurst, während ihre Onkel sich Blutsuppe (!) oder Innereien schmecken
ließen.
Als Alina dann spät am Abend in der Kammer im großen alten Bett ihrer Oma lag – mit einem Deckbett aus richtigen
Gänsefedern (!) – drückte sie glücklich ihren Teddy an sich und dachte an den schönen Tag.

Noch lange hörte sie Weingläser klirren und leise Stimmen.
"Ach, Vater, dein selbstgemachter Wein ist einfach ein Gedicht!“
"Nun, dann lasst uns anstoßen auf einen erfolgreichen Erntetag!“


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***Fortsetzung folgt: „Warum war es eine Ehre, ein Pionier zu sein?“***

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Der oben genannte Ausschnitt ist ein Teil aus meiner Erzählung "Die (fast) heile Welt" Teil 1 Das glückliche Kind

Alle Personen haben tatsächlich gelebt. Die Namen wurden von mir zum Schutz der Privatsphäre ausnahmslos geändert.

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